Florian Havemann

Speedy – Skizzen

Speedy – Skizzen

Florian Havemann

Speedy – Skizzen

Erscheinungsjahr: 2023
ISBN 978-3-95890-328-9
844 Seiten
Format: 155 x 225 mm
Halbleineneinband
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    Florian Havemann, ein Abend mit SPEEDY, Kiki & Omnia

    Veranstaltung im Berliner Ensemble am 24. März 2022

    Autor

    Florian Havemann

    1952 geboren, aufgewachsen in Ost-Berlin.

    1968 Protest gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei, Haft bei der Stasi in Hohenschönhausen und dann im Jugendhaus Luckau, danach Lehre als Elektriker und Abitur bei der Deutschen Reichsbahn. 

    1971 Flucht in den Westen.

    1974-1979 Studium an der Hochschule der Künste, erst Graphik-Design, dann Bühnenbild bei Achim Freyer.

    Arbeit als Elektriker, als Hausmeister und Beleuchter, als Packer bei Aldi und als Reinigungskraft.

    1999-2009 Richter am Verfassungsgericht Brandenburg.

    1976-1979 Auszüge aus den Tafeln des Schicksals, März-Verlag.

    1978-2008 Projekt: SPEER – Theaterstück über Albert Speer.

    1995-1996 A, natürlich Moll – 37 Klavierstücke

    1998 Sympathie mit dem Teufel – Doppel-CD

    1989-2008 ROSA – Theaterstück über Rosa Luxemburg.

    2003-2006 Zyklus von Politiker-Stücken. 

    2006 Speedy – Roman, Europa-Verlag 2020

    2007 Havemann – Suhrkamp-Verlag.

    2008 ROSA/SPEER-BILDER – Ausstellung im Schloss Neuhardenberg.

    2009-2013 Berater von Gregor Gysi im Bundestag.

    2016 Bankrott – Roman.

    Seit 2019 Galerie Friedrichstraße 119.

    Seit 2021 Der unfertige Gedanke – Essayreihe in der Berliner Zeitung.

    Rezensionen

    Clemens Setz, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13. Oktober 2019

    Unveröffentlichtes Meisterwerk: Durch alle Zeiten brandgefährlich

    In Frankreich wäre dieses Buch über grenzüberschreitende Sexualität im Dritten Reich längst ein Hit. Doch hierzulande findet es keinen Verlag: Ein Besuch bei Florian Havemann, der einen großen Roman geschrieben hat, den niemand veröffentlichen will

    Es ist ja kein Geheimnis, dass ich gern verlorene Meisterwerke wiederentdecke. Ich gehe dabei durchaus missionarisch vor. Denn das Glücksgefühl, in diesem Augenblick der vermutlich einzige Mensch in Österreich zu sein, der, sagen wir, Edward Dahlbergs Autobiographie „Because I Was Flesh“ oder Hans-Jürgen von der Wenses Briefe liest, verraucht in der Regel sehr rasch, und ich wünsche mir, wie wahrscheinlich jeder Mensch, doch ein wenig Gesellschaft.

    In deutscher Sprache ist der Endboss in Sachen verlorener – oder, in seinem Fall, ganz und gar unsichtbarer – Meisterwerke vermutlich der 1952 geborene Florian Havemann. Er ist heute 67, lebt in Berlin. Zehn Jahre lang übte er das Amt des Verfassungsrichters im Land Brandenburg aus. An einem Tag im Mai dieses Jahres besuchte ich ihn in seinem Atelier in der Berliner Friedrichstraße 119, wo er seine Gemälde ausstellt. Er nahm sich die Zeit, mir einige Stunden von sich und dem höchst eigenartigen Schicksal seiner Bücher zu erzählen.

    Havemann hat auch Theaterstücke verfasst, aber es geht hier vor allem um zwei äußerst umfangreiche Bücher, die, das lässt sich sogar wertfrei sagen, wahrlich nicht ihresgleichen haben in der gegenwärtigen Literatur. Sie aufzutreiben und zu lesen verlangt fast schon so etwas wie die Kenntnis von Cheat Codes für die Wirklichkeit. Sein erstes Buch „Havemann“ erschien im Jahr 2007 bei Suhrkamp und wurde kurz nach Erscheinen infolge eines Gerichtsverfahrens vom Markt genommen. Mehrere Personen fühlten sich in dem autobiographisch formulierten Text verleumdet und beleidigt. Eine zweite veränderte Auflage wurde kurz nach dem Druck eingestampft. Man kann die Originalversion heute noch finden. Aber viel Glück.

    Und sein zweites Buch „Speedy“, chronologisch vor „Havemann“ entstanden, kann man überhaupt nur dann lesen, wenn man das Manuskript persönlich überreicht bekommt. Nun trifft das freilich auf alle möglichen Machwerke zu, die einfach nicht interessant genug waren, um einen Verlag zu finden. Und, zugegeben, genau das hoffte ich auch ein wenig, als ich es eines Tages in die Hand bekam. Lesen wir mal, dachte ich. Wahrscheinlich ist es einfach schwach. Aber dann war ich plötzlich dreihundert Seiten in der sich prachtvoll um mich schraubenden und stapelnden Geschichte drin und dachte nur noch ein Wort: „Fuck“.

    Aber stellen wir zuerst einmal fest, worum es geht. Der, wäre er gedruckt, gewiss mehr als tausend Seiten umfassende Roman wird erzählt aus der Sicht des Malers Rudolf Schlechter, den es wirklich gegeben hat (bloß schrieb er sich Schlichter) und der von 1890 bis 1955 lebte. Das Buch orientiert sich äußerlich sehr eng an den historisch belegten Fakten seiner Biographie. Es ist das Jahr 1938. Schlechter sitzt im Gefängnis wegen „unnationalsozialistischer Lebensführung“. Der Grund für diesen Vorwurf ist das vielfach als skandalös empfundene Verhalten, zu dem er mit Hilfe seiner von allen nur „Speedy“ genannten Frau fand. Heute würde man dieses Verhalten vielleicht leichtfertig als ausschweifendes Cuckold-SM bezeichnen, als „feminization“ oder „femdom“. Allerdings ist bereits das Wort „ausschweifend“ vollkommen falsch – denn die exuberanten Grenzüberschreitungen geschehen bei Schlechter vor allem in seinem Inneren. Seiner Frau ist es nicht wichtig, ihn alle möglichen Dinge tun zu lassen, sondern seine Innenwelt in ein reiches Theater weltenthobener Selbstverwirklichung zu verwandeln. Sie ist weniger seine Herrin als seine Autorin. Schlechter kommt ins Gefängnis, weil seine Frau, wie einige aufpasserisch veranlagte Herren in der Nachbarschaft bemerkt haben, mit anderen Männern schläft.

    Geborgenheit in einer unmöglichen Situation

    Schlechter ist, anders als etwa eine Transfrau, die einfach ihre wahre Identität in Frieden leben will, ein Mensch, dem man das Frau-Sein durchaus streng befehlen muss, damit es ihm zur Erfüllung wird. In einer ungeheuren Szene, die am 27. Februar 1933 spielt, dem Tag des Berliner Reichstagsbrands, kommunizieren die bereits erste Vorzeichen politischer Verfolgung ahnenden Eheleute miteinander über das merkwürdige neue Medium des Telefons. Speedy befiehlt dem verängstigten Schlechter, heute in ihrem Nachthemd schlafen zu gehen. Was oberflächlich wie eine milde Erziehung klingt, ist eigentlich ein Akt der Fürsorge, der Stiftung von Geborgenheit in einer unmöglichen Situation. Unter dem erhöhten Druck der möglicherweise drohenden Verhaftung muss Schlechter nun – und noch dazu via Telefon! – seine weibliche Identität sozusagen in Crashkursgeschwindigkeit erlernen, offenbaren und perfektionieren.

    Und das ist erst der Anfang. Der ganze Roman ist eine der vollständigsten Darstellungen des – verwenden wir hier vorläufig dieses etwas unelegante Behelfswort – Hahnrei-Masochisten in seiner emotionalen Realität, in seinen Widersprüchen und in der Tiefe seiner Jahre. Bisweilen wälzt es einem beim Lesen einen gewaltigen Mühlstein auf die Seele, wenn man bedenkt, wie weit wir heute immer noch von einem allgemeinen Verständnis solcher Lebensformen entfernt sind. Vielleicht ist „Speedy“ das größte Epos einer zögerlich beginnenden Transgender- oder genderfluiden Identität in deutscher Sprache. Ich kenne zumindest nichts Vergleichbares.

    Begierde und Scham

    Speedy ist die interessanteste Frauenfigur, die mir seit langer Zeit in einem deutschsprachigen Werk begegnet ist. Ihre sexlos-kameradschaftliche Liebe zu ihrem Mann ist, scheint mir, das eigentlich Subversive in dem Roman und vielleicht auch, so könnte man zumindest vermuten, eine der genuin subversiven Lebenshaltungen in unserer Kultur.

    Die einzigen literarischen Parallelfiguren, die mir einfallen, sind der wunderbare Samuel Delany und, ganz besonders, der für seine ähnlich umfangreichen und ähnlich besessenen Werke bekannte William T. Vollmann, mit dem Havemann auch ganz explizit einige Eigenheiten teilt: die Überblendung von Historie und Gegenwart, Grenzbereiche der Sexualität, die Erkundung genderfluiden Lebens (siehe Vollmanns prächtiges „Book of Dolores“), persönliche Autobiographie als Prisma des Weltgeschehens und, nicht zuletzt, eine herrlich unbelehrbare Respektlosigkeit gegenüber jeder Autoritätsinstanz. Auch Vollmann zeigt mit Vorliebe Menschen in vollkommen unmöglichen historischen Situationen. Havemanns Darstellung von Rudolf Schlechter erinnerte mich an vielen Stellen an Vollmanns Porträt des Komponisten Schostakowitsch in „Europe Central“. Endlose Verhörszenen, in denen er sich geschickt hin und her windet und dabei doch so offen bleibt wie nur möglich.

    Schlechter ist eingesperrt, zerfressen von dem fast immer gleichzeitig auftretenden Empfindungspaar Begierde und Scham, von seinem momentweise selbstbewusst geschwellten Alles-Verstehertum und der plötzlich in seinen Gedanken einreißenden Orientierungslosigkeit. Seiner Frau Speedy gelingt es immer wieder, auch während ihrer „Sprecher“ genannten kurzen Gefängnisbesuche, ihm, wenn auch nur durch winzige Befehle, Explosionen innerer Welten zu bescheren. Einmal suggeriert sie ihm, sich beim Masturbieren vorzustellen, wie er vor ihr masturbiert. Sozusagen sich an sich selbst kurzzuschließen, um, wie der Leser vermuten darf, weniger allein zu sein. Genau das scheint die Formel dieses Romans zu sein: der sich nicht allein, sondern unter gütiger Anleitung, fort von den zu grellen Druckverhältnissen der Wirklichkeit allmählich nach innen schraubende Verstand eines Menschen, eines Künstlers.

    Eine Architektur wie bei viktorianischem Meister

    Havemann erklärte mir bei unserem Treffen, die traditionelle Rolle der Frauen sei durch die Jahrhunderte häufig die interpretierende gewesen. Denn das sei, notgedrungen, die Perspektive derer, die über weniger Macht verfügen. Die Männer, außerhalb des Siedlungsbereiches auf Krieg oder Jagd aus oder abgekapselt in ihrem Machtgehege, kehren zurück, und nun müssen die Frauen anhand weniger Zeichen erkennen lernen, ob Gefahr, Reichtum oder Irrationalität droht. Schlechter bekleide genau diese Position. Er sei einer, der nichts zu sagen habe im Staat und deshalb nur interpretieren könne. Er ist in eine Zelle gesperrt, seine Kunst gilt als „entartet“. Kaum etwas dringt zu ihm durch. Deshalb sieht er scharf.

    In seinen inneren Palästen entstehen detaillierte Abschweifungen über Gemälde, über den zeitweise als Frau lebenden römischen Kaiser Heliogabal, über die „großen Vereinfacher“ Bertolt Brecht und Ernst Jünger (die mehr gemeinsam haben, als man denkt), die snuff-film-artige Theaterpraxis im Rom der mittleren Kaiserzeit oder über das Phänomen der Masse (anders als etwa Elias Canetti verweilt dieser eingeschobene Essay vor allem auf dem Ekel vor Massen, auf der Furcht vor ihrem Erscheinungsbild; bei Canetti wird dies nur vorübergehend mit dem durchaus einleuchtenden Prinzip „Umsprung der Berührungsfurcht“ berührt, aber in Schlechters Gedanken wird diesem Phänomen, nämlich dem Klebrigen, Schleimartigen der Masse, sehr viel mehr Raum eingeräumt). Die Architektur des Romans erinnert an viktorianische Meister, etwa George Eliot.

    Am Ende kommt Schlechter frei, aus demselben Grund, aus dem er ursprünglich eingesperrt wurde: weil seine Frau mit anderen Männern schläft. Nur eben diesmal mit den richtigen. Eingesperrt wegen unnationalsozialistischer Lebensführung, freigelassen wegen unnationalsozialistischer Lebensführung.

    Der Autor wundert sich

    Wie ausgesprochen seltsam, dass dieses Buch nie veröffentlicht wurde. Das heißt, einige Male wurde es bereits von diesem oder jenem großen deutschen Verlag angenommen, aber dann nach kurzer Zeit wieder ent-angenommen. Eigenartig. Havemann selbst erzählt, dass man es ihm oft als Meisterwerk beschrieben habe, nur um dann gleich alles abzublasen. Er selbst deutet diese Vorkommnisse nicht paranoid, sondern wundert sich einfach. Verbittert wirkt er nicht. In einem Interview 2017 zitiert er seinen Agenten Alexander Simon mit dem Satz „Du bist verbrannt“, was bedeuten soll, dass kein einziger deutscher Verlag seine Bücher auch nur in Erwägung ziehen werde. Florian Havemanns Hauptvergehen scheint immer noch sein autobiographischer Traktat „Havemann“ zu sein.

    Was immer der genaue Grund für das kuriose und ein wenig tragische Schicksal dieser Bücher sein mag, ich wurde beim Lesen von „Speedy“ jedenfalls die Vermutung nicht los, dass, wäre dies ein französisches oder amerikanisches Buch, es längst preisberegnet seinen Weg in unsere Regale angetreten hätte. Jonathan Littells Ungetüm „Die Wohlgesinnten“ fällt einem sofort als Vergleich ein, obwohl „Speedy“ eben gerade eine Art Anti-Littell darstellt. Denn dass etwas Dämonisch-Sexuelles in den Akteuren großer Menschheitsverbrechen flackert und in beide historische Zeitpfeilrichtungen seine pornographische Energie ausstrahlt, ist längst keine originelle Einsicht mehr. So wird etwa seit einigen Jahrzehnten die Geschichte der nordamerikanischen Sklaverei in einem erheblichen Maß auch als eine primäre Geschichte sexueller Fetischisierung und Verfügbarmachung untersucht. Aber dass in dem Bereich der grenzüberschreitenden Sexualität auch so etwas wie die Schaffung einer Wohnung auf Erden stecken kann, gerade in finsteren, von tödlicher Einheitlichkeit regierten Zeiten, ist immer noch etwas sträflich Unerforschtes im Bereich der erzählenden Literatur.

    Liebende von der variablen Seelentiefe wie Schlechter und Speedy sind nicht einfach Leute, die einander in komplementär ergänzender Autorschaft begegnen. Wahrscheinlich wird dies durch alle Zeiten etwas Brandgefährliches bleiben.

     

    Andre­as Platt­haus, Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 17.März 2021

    Masse und Maßlosigkeit

    Verstörend offen, vertröstend persönlich: Florian Havemanns Romansolitär „Speedy“ fordert die literarische Bequemlichkeit heraus.

    „Ein Glücks­tag, dieser 30. Januar 1933.“ Wenn eine seiner­zeit in Berlin leben­de Roman­fi­gur diesen Glücks­seuf­zer ausstö­ßt, möchte man in ihr einen stram­men Natio­nal­so­zia­lis­ten vermu­ten. Das Gegen­teil ist der Fall: Rudolf Schlech­ter, der Ich-Erzäh­ler in Flori­an Havemanns „Speedy“, sitzt zu Beginn der Hand­lung in NS-Unter­su­chungs­haft. Da sind wir aller­dings schon einige Jahre weiter, Ende der drei­ßi­ger Jahre, auf dem Höhe­punkt von Hitlers Macht. Anfangs hatte Schlech­ter sich als Maler eini­ges vom neuen Regime verspro­chen, doch die von ihm präfe­rier­te Neue Sach­lich­keit galt den Macht­ha­bern dann doch nicht wie erhofft als Fort­set­zung der urdeut­schen Roman­tik. „Artig – Gutar­tig – Abar­tig – Bösar­tig – Schlecht­ar­tig – Schlech­ter­ar­tig – Entar­tet“, so leitet Rudolf Schlech­ter mitt­ler­wei­le das offi­zi­el­le Urteil über seine Kunst her. Und der private Lebens­wan­del des Malers entspricht gar nicht natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Idea­len. Seiner nympho­ma­ni­schen Frau Elfrie­de Elisa­beth Koeh­ler, genannt Speedy, ist er hörig, er selbst zieht Lust aus Traves­tie.

    Will­kom­men in einem Roman der sozia­len und sexu­el­len Abgrün­de. Will­kom­men auch in diesem Roman selbst, der schon vor andert­halb Jahr­zehn­ten geschrie­ben, aber von diver­sen Verla­gen abge­lehnt wurde und erst nach einem vehe­men­ten Plädoy­er des Schrift­stel­lers Clemens Setz in der Frank­fur­ter Allge­mei­nen Sonn­tags­zei­tung endlich doch noch erschei­nen konnte: vergan­ge­nen Herbst im Europa Verlag, nicht eine der ersten lite­ra­ri­schen Adres­sen im Lande, aber nunmehr mit großem Verdienst an der deut­schen Lite­ra­tur.

    Wieso hat dann diese Rezen­si­on so lange auf sich warten lassen? Weil es sich um ein inhalt­lich wie formal maßlo­ses Werk von fast 850 Seiten handelt (die bei norma­ler Schrift­grö­ße und übli­chem Satz­spie­gel weit über tausend gekom­men wären). Diesen Roman liest man nicht einfach weg, dazu ist er zu inten­siv, auch zu persön­lich, es empfiehlt sich eine Lektü­re in homöo­pa­thi­schen Dosen, um die Patho­lo­gie seines Gegen­stands ertra­gen zu können. Den kann man beschrei­ben als das Schick­sal eines Einzel­nen, der aus allen Rastern fällt in einer Gesell­schaft, die nur in Rastern denkt und alles andere ausmer­zen will. Dass der Roman trotz­dem „Speedy“ heißt, liegt an der Obses­si­on Rudolf Schlech­ters für diese Frau. Denn es ist auch der Roman einer großen Phan­ta­sie­leis­tung, mit der sich der Maler aus seinem Elend rettet: Er schreibt im Buch einen Roman mit dem Titel „Speedy“. Die Gren­zen zwischen Inhalt und Form verwi­schen bei Havemann wie bei Schlech­ter die Gren­zen zwischen den Geschlech­tern.

    Das Buch hat einen wahren Kern: das Leben des Malers Rudolf Schlich­ter (1890 bis 1955), der durch den Austausch eines einzi­gen Buch­sta­bens verfrem­det wird, während ansons­ten alle Figu­ren von Speedy über George Grosz und Ernst Jünger bis zu Göring, Goeb­bels, Hitler ihre Klar­na­men tragen. Was an biogra­phi­scher Recher­che und ästhe­ti­schen Über­le­gun­gen zur Kunst­ge­schich­te in diesen Roman einge­gan­gen ist, kann man gar nicht hoch genug veran­schla­gen, doch das, was ihn ausmacht, ist die scho­nungs­lo­se eroti­sche, aber dabei nie porno­gra­phi­sche Offen­heit seines Ich-Erzäh­lers. Es gibt im dialek­ti­schen Verzweif­lungs­ver­hält­nis von Tag- und Albtraum eines sexu­ell ausge­grenz­ten Trans-Mannes nur eine erzäh­le­risch an ihn heran­rei­chen­de Bezugs­grö­ße: „Der Kuss der Spin­nen­frau“ von 1985 nach Manuel Puigs gleich­na­mi­gem Roman. Beide feiern in den Phan­ta­sie­ex­zes­sen ihrer Figu­ren deren Frei­heit, die sexu­ell nicht ausge­lebt werden darf, ja offi­zi­ell bekämpft wird. Doch die Vorstel­lungs­kraft trium­phiert über die Unter­drü­ckung.

    Man müsste diesen Roman von insge­samt 276 Kapi­teln so detail­liert und ausufernd bespre­chen, wie er selbst ist, aber das spreng­te wie er auch jedes Maß. „Speedy“ wird als großer Soli­tär in die deut­sche Lite­ra­tur­ge­schich­te einge­hen, er wird das Publi­kum spal­ten, Beifall falscher Freun­de und Ableh­nung beque­mer Leser ernten. Aber man muss ihn lesen. Derglei­chen Leiden­schaft gibt es einmal alle paar Jahr­zehn­te. 

    Journal
    29. 11. 2022
    Florian Havemann, ein Abend mit SPEEDY, Kiki & Omnia

    Veranstaltung im Berliner Ensemble am 24. März 2022
    Fotos: Uwe Hauth

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